INTERVIEW

„Röntgen bockt total“

Die Röntgen-Sekundarschule liegt an der Grenze zum Berliner Stadtbezirk Neukölln. Rund 400 Schülerinnen und Schüler besuchen diese Schule. Fast 90 Prozent von ihnen leben in Familien, die Transferleistungen beziehen. Um den Kindern und Jugendlichen den Namensgeber ihrer Schule, Wilhelm Conrad Röntgen, nahezubringen, führt die Schule seit mehreren Jahren das Röntgen-Projekt durch, das von der Deutschen Röntgengesellschaft gefördert wird. Wie das Projekt aussieht und was es den Schülerinnen und Schülern bedeutet, haben wir die Lehr- und Fachkräfte gefragt, die das Projekt durchführen: Dr. Vera Dünkel, Nadja Junginger, Paul A. Kleinert, Michael Schlecker und Alice Thoms.

Paul A. Kleinert (links) und Michael Schlecker in der Aula der Röntgen-Sekundarschule DRGMit welchen Schwierigkeiten haben Sie hier an der Schule zu tun?
Michael Schlecker: Bei uns ist Schuldistanz ein großes Thema sowie die mangelnde Unterstützung der Kinder und Jugendlichen durch ihre Eltern. Das Leistungsniveau ist niedrig, die meisten unserer Schülerinnen und Schüler stammen aus bildungsfernen Haushalten. Analphabetentum unter den Eltern ist nicht selten. Viele Kinder wachsen in großen Familien mit vier, fünf, sechs, bis zu elf Geschwistern auf. Die Wohnungen sind klein und beengt.

Das sind keine motivierenden Verhältnisse.
Michael Schlecker: Nein, absolut nicht. Wir Lehrerinnen und Lehrer müssen die Motivation zum Lernen von außen an die Kinder herantragen, weil das Elternhaus diese Begeisterung nicht mitgibt. Zugleich haben die Eltern völlig überzogene Ansprüche an die Schule: Ihre Kinder sollen immer Abitur machen und Arzt oder Jurist werden. Darauf vorbereiten soll die Schule.

Haben Sie Förderkinder an der Schule?
Michael Schlecker: Ja! Bei vielen Schülerinnen und Schülern wurde bereits in der schulärztlichen Eingangsuntersuchung ein Förderstatus aufgrund psychischer oder physischer Störungen festgestellt. Doch diese wurden bei den meisten nie eingehend untersucht oder gar behandelt. Sie tragen diese Störungen durch die Grundschulzeit und kommen damit in unsere 7. Klassen. Emotional-soziale Störungen stehen weit oben, dem folgen Lernstörungen und verschiedene psychische Störungen. All das hat sich durch die Pandemie-Zeit enorm verstärkt.

Arbeitskreis „Wilhelm Conrad Röntgen“ an der Röntgen-Sekundarschule

Das Röntgen-Projekt wird vom schulinternen Arbeitskreis „Wilhelm Conrad Röntgen“ organisiert und durchgeführt. Zu diesem Arbeitskreis gehören: Dr. Vera Dünkel (Kunsthistorikerin, Mitinitiatorin und freie Mitarbeiterin am Röntgenprojekt), Nadja Junginger (Lehrerin im Fachbereich Naturwissenschaften), Paul A. Kleinert (Ansprechpartner der Schule für kulturelle Bildung und Projektkoordinator der Schule), Michael Schlecker (Mittelstufenkoordinator) und Alice Thoms (Lehrerin im Fachbereich Kunst).

Kommen wir zum Röntgen-Projekt. Dr. Dünkel, Sie sind die Initiatorin des Projektes. Wie kam es dazu?
Dr. Vera Dünkel: 2016 habe ich meine Doktorarbeit über frühe Röntgenbilder veröffentlicht und bin dabei auf die Deutsche Röntgengesellschaft zugegangen, um Druckkostenzuschüsse zu erfragen. Parallel dazu kam ich durch Zufall mit einem Lehrer der Röntgen-Schule in Kontakt. Er erzählte mir, dass an der Schule niemand wisse, wer Wilhelm Conrad Röntgen sei, und dass man dies ändern müsse. Wir haben dann in der Schule mit einem Lehrer-Team eine Projektwoche entwickelt, die aus den Themen meiner Doktorarbeit besteht. Darauf basieren die acht Lernstationen, die die Schüler im Röntgen-Projekt durchlaufen, etwa der Mensch Wilhelm Conrad Röntgen, bildgebende Verfahren oder Schattenbilder.

Paul A. Kleinert: Wir wollen den Schülerinnen und Schülern mit dem Projekt zeigen, wer der Namensgeber ihrer Schule ist, auch, damit sie sich besser mit der Schule identifizieren können. Denn eine solche Identifikation brauchen unsere jungen Menschen: Ich bin Schülerin oder Schüler der Röntgen-Schule. Sie sollen sich dabei fragen: Was war Röntgen für ein Typ? Was hat der gemacht? Was hat das mit mir zu tun? Gerade die letzte Frage bringt eine Perspektivänderung in das Leben der Kinder und Jugendlichen, nicht zuletzt durch unsere Projekte, die die Identifikation stärken. Viele unserer Schülerinnen und Schüler können den Lebensweg Röntgens gut nachvollziehen - seinen Rauswurf aus der Schule, dass er sich bis zum Abitur kämpfen musste… Sie erkennen sich teils darin wieder und sehen darin auch eine Abwertung. Abwertung kennen sie selbst zu genüge.

Welche Rolle spielt die Deutsche Röntgengesellschaft bei dem Röntgen-Projekt?
Dr. Vera Dünkel: Die Deutsche Röntgengesellschaft ermöglicht es uns, dieses Projekt jedes Jahr durchzuführen. Wir wurden und werden von der Fachgesellschaft dabei auf eine unkomplizierte Weise kontinuierlich unterstützt. So können wir auch jedes Jahr im Anschluss an das Projekt vor Ort eine Reise nach Remscheid-Lennep durchführen. Das ist schon etwas sehr Besonderes. Meine Vision ist, dass wir das Projekt ausbauen und den Austausch zwischen der Röntgen-Schule in Berlin und dem Röntgen-Gymnasium in Lennep intensivieren. Dass diese Kooperation gelingt, ist nur mit Hilfe der Deutschen Röntgengesellschaft möglich.

Was bedeutet das Röntgen-Projekt für Sie sowie Ihre Schülerinnen und Schüler?
Nadja Junginger: Ich bin recht neu an der Schule und habe mich daher auch freiwillig für die Röntgenfahrt gemeldet. Dabei habe ich das ganze Potenzial dieses Projektes gesehen. Viele Schülerinnen und Schüler unserer Schule denken, dass sie nichts können, aber dann merken sie im Projekt oder bei der Fahrt, dass sie doch vieles verstehen und im Laufe der Zeit auch immer mehr Zusammenhänge begreifen. Ich habe mich sehr gefreut, als mir einer meiner Schüler sagte: ‚Oah, Röntgen bockt total‘.

Das Projekt bringt den Schülerinnen und Schülern also Wissenschaft näher?
Nadja Junginger: Definitiv! Umfangreiche Möglichkeiten, zu experimentieren, gibt es nur in einem Labor wie dem im Deutschen Röntgen-Museum in Lennep. In der Schule haben wir diese Ausstattung nicht. Im RöLab lernen sie, mit bildgebenden Verfahren zu arbeiten, etwa mit Ultraschall oder mit einem kleinen Röntgen-Gerät. Lennep eröffnet den Schülerinnen und Schülern einen Zugang zur Wissenschaft, und dieser zeigt ihnen, dass Wissenschaft lebendig ist. Sie und die Geschichte der Wissenschaft werden im Lenneper Labor greifbar und erlebbar.

Paul A. Kleinert: In Lennep sehen unsere Kinder und Jugendlichen das erste Mal richtig eingerichtete Laboratorien! Darin können sie ihre Kreativität entwickeln. Projekte bedeuten Kreativität, und die Kreativitätsposten sind begrenzt an einer Schule wie unserer. Zum Beispiel gab es hier vier Jahre keinen Musikunterricht, das muss man sich mal überlegen! Eines der kreativsten Fächer fällt völlig flach.

Kreativität verspricht der dritte Baustein des Röntgen-Projektes.
Alice Thoms: Ja, genau. Dieser Baustein ist noch im Werden. Wir wollen ein Theaterstück entwickeln und zuvor eine Theatergruppe gründen. Mit diesem Baustein lernen unsere Schülerinnen und Schüler Röntgen noch einmal anders, dieses Mal künstlerisch-theatralisch kennen. Das Projekt wollen wir mit dem MUS-E-Projekt verbinden, das es an unserer Schule gibt, und das seinen Fokus auf die Künste legt, also auf Kunst oder eben Theater.

Nadja Junginger: Auf dieses Projekt freue ich mich besonders, denn das Theaterstück, das entstehen soll, wird die beiden Elemente Kunst und Wissenschaft miteinander verknüpfen. Wenn Kunst auf Wissenschaft trifft, zeigt es den Schülerinnen und Schülern, dass beides zusammengehört. Man braucht Kreativität, um Wissenschaft zu betreiben.

Kann das Röntgen-Projekt den in Deutschland besonders engen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg zumindest mildern?
Alice Thoms: Ja! Der Mehrwert des Projektes für die Schülerinnen und Schüler ist, dass sie mit Bereichen in Berührung kommen, die sonst in ihrem Leben kaum oder nie vorkommen. Wir betrachten es als sozialen Auftrag, dass unsere Schülerinnen und Schüler mit Wissenschaft und den kreativen Bereichen Erfahrungen sammeln und durch die Reise nach Lennep aus Berlin herauskommen. Für viele ist die Röntgen-Fahrt das erste Mal, dass sie Berlin verlassen und erfahren, dass es noch andere Orte gibt. Das ist an sich eine Horizonterweiterung, die sie weiterbringt. Sie erhalten Einblicke in Welten, die sie sonst nicht haben.

Paul A. Kleinert: Weltanschauung kommt durch Welt anschauen, wie Alexander von Humboldt geschrieben hat. Reisen bildet! In emotionaler, intellektueller und sozialer Hinsicht. Wie hier in Deutschland gelebt wird, kriegen die Kinder und Jugendlichen kaum mit, das ist höchstens en passant so, und dann nicht im Positiven. Das ist leider so. Ich bin der Ansicht, dass alle Menschen Chancen verdienen, vor allem Kinder und Jugendliche. Die Schülerinnen und Schüler an unserer Schule sind werdende Menschen, die Unterstützung brauchen. Jede Gesellschaft ist nur genauso stark wie das schwächste Glied der Kette. Es sollte nicht immer die Oberschicht sein, die gefördert wird.

DRG fördert Schulprojekte in sozial benachteiligtem Kiez
Die integrierte Röntgen-Sekundarschule liegt in der Wildenbruchstraße in Berlin-Treptow, sie wird aber zu den Bildungseinrichtungen des benachbarten Stadtbezirkes Neukölln gezählt. Seit dem Schuljahr 2016/2017 hat die Röntgen-Schule gemeinsam mit der Sophie-Brahe-Schule eine eigene gymnasiale Oberstufe.
Die Röntgen-Schule besuchen 402 Schülerinnen und Schüler aus sechs Bezirken. Bis auf zwei der Schülerinnen und Schüler haben alle Kinder und Jugendlichen einen Migrationshintergrund – sie oder ihre Eltern stammen aus 34 Ethnien, vor allem aus der Türkei,  arabischsprachigen Ländern und vom Balkan. Fast 90 Prozent der Kinder und Jugendlichen leben in Familien, die Transferleistungen erhalten.
Um den Kindern und Jugendlichen, die die Schule besuchen, den Namensgeber Wilhelm Conrad Röntgen näher zu bringen und sie für seine Person wie auch seine wissenschaftliche Arbeit und Entdeckung der „X-Strahlen“ zu begeistern, fördert die Deutsche Röntgengesellschaft seit rund 10 Jahren verschiedene schulische Röntgen-Projekte.
So finden seit 2016 zum Ende des 1. Schulhalbjahres für alle 7. Klassen die Projekttage „Bilder durch Röntgen" statt. Die Schülerinnen und Schüler lernen Wilhelm Conrad Röntgen, seine Entdeckung und die Anwendungsgebiete der Röntgenstrahlen kennen, experimentieren mit Schattenbildern und erforschen die Zeit um 1900.
Im Anschluss an die Projekttage findet seit 2018 eine Schülerbildungsreise in die Geburtsstadt Röntgens Remscheid-Lennep statt, an der bis zu 20 Schülerinnen und Schüler der 7. Klassen teilnehmen. Dort besuchen sie das Geburtshaus Röntgens sowie das Deutsche Röntgen-Museum. Das Röntgen-Gymnasium in Remscheid-Lennep ist durch ein Mentorenprogramm in das Projekt eingebunden.
Ein weiteres Projekt ist die Entwicklung eines Theaterstücks zum Thema Röntgen sowie dessen Verknüpfung mit dem Bildungsprogramm MUS-E, das sozial benachteiligten Schülerinnen und Schülern klassische und künstlerische Bildung vermittelt.
Um die kontinuierliche Auseinandersetzung mit Röntgen zu gewährleisten, greift der 10. Jahrgang der Röntgen-Schule das Thema Röntgenstrahlen im Physikunterricht erneut auf und vertieft es. Inzwischen ist das Thema Teil des schulischen Bildungsangebotes der Röntgen-Schule.

veröffentlicht am Montag, 22. April 2024