INTERVIEW

„Die Computertomografie ist für Patienten mit Verdacht auf koronare Herzkrankheit eine sichere Alternative zum Herzkatheter“

Die koronare Herzkrankheit gehört zu den häufigsten Herzerkrankungen - alleine in Deutschland sind etwa sechs Millionen Menschen betroffen. Herzkranke Patientinnen und Patienten werden medizinisch in der Regel mithilfe eines Herzkatheters untersucht. Eine Alternative dazu kann aber die Untersuchung mithilfe der Computertomografie mit nicht-invasiven Verfahren darstellen. Das zeigt die nun veröffentlichte DISCHARGE-Studie unter Leitung von Prof. Dr. Marc Dewey, Stellvertretender Direktor der Klinik für Radiologie an der Charité-Universitätsmedizin Berlin. Wir haben Professor Dewey zur Studie und ihren Ergebnissen befragt.

Prof. Dr. Marc Dewey © Charité/Britta RadikeProfessor Dewey, die DISCHARGE-Studie ist kürzlich im New England Journal of Medicine veöffentlicht worden. Wie würden Sie einem breiten Publikum die Kernbotschaft und den Inhalt Ihres Papers erklären?
Marc Dewey: Die Kernbotschaft des Papers ist, dass die Computertomographie, auch kurz CT genannt, sich als sicheres Verfahren erwiesen hat für Patientinnen und Patienten mit stabilen, also nicht akuten, Brustschmerzen und dem Verdacht auf eine koronare Herzkrankheit (KHK). Daraus kann man schlussfolgern, dass die durch uns in der DISCHARGE-Studie standardisierte und qualitätsgesichert durchgeführte CT bei Verdacht auf eine KHK in der Routineversorgung verstärkt angeboten werden sollte. Deshalb begrüße ich es sehr, dass der Gemeinsame Bundesausschuss G-BA aktuell prüft, ob man dieses Verfahren in der gesundheitlichen Versorgung gesetzlich Versicherter verankern sollte. Zum medizinischen Hintergrund ist zu sagen, dass die KHK weltweit eine der häufigsten Todesursachen ist. Derzeit ist der Herzkatheter, auch invasive Koronarangiographie genannt, der Referenzstandard für die Diagnose der KHK.

Können Sie beschreiben, welche Fragestellung Sie in der Studie untersucht haben?
Eine KHK kann zuverlässig mit der CT erkannt werden. Jedoch war bisher unklar, wie die klinischen Langzeitergebnisse für Patientinnen und Patienten mit Verdacht auf eine KHK sind, wenn die initiale Diagnostik mit der CT statt dem Herzkatheter erfolgt. Dies ist wichtig, da der Herzkatheter die Standardmethode bei Verdacht auf eine KHK ist und eine gleichzeitige Behandlung ermöglicht. Als invasive Untersuchung ist der Herzkatheter selten mit schweren Komplikationen verbunden. Etwa die Hälfte aller Herzkatheteruntersuchungen in Europa und den USA ergeben keinen behandlungsbedürftigen KHK-Befund. Deshalb haben wir uns im DISCHARGE-Projekt die Frage gestellt, ob mit der CT eine sichere Alternative zur Verfügung steht. In Europa werden jährlich etwa zwei Millionen invasive Koronarangiographien in Europa durchgeführt, bei denen keine KHK festgestellt wird.

Wie sind Sie dabei vorgegangen? Welche Untersuchungsmethode(n) sind zum Einsatz gekommen?
Die CT oder der Herzkatheter wurden bei über 3.500 Patientinnen und Patienten randomisiert in zwei Gruppen angewendet – die Patientinnen und Patienten erhielten also im Zufallsverfahren entweder eine CT oder einen Herzkatheter. Die Teilnahme an der randomisierten DISCHARGE-Studie war für Patientinnen und Patienten möglich, die mit stabilen Schmerzen in der Brust und mittlerer Wahrscheinlichkeit (10-60 Prozent) für eine KHK zum Herzkatheter an eines von 26 klinischen Zentren in 16 Ländern Europas überwiesen wurden. Insgesamt wurden in der Studie 3.561 Patientinnen und Patienten eingeschlossen. Patientinnen und Patienten ohne den Befund einer KHK wurden nach der Untersuchung zurück an die überweisenden Ärztinnen und Ärzte zur weiteren Behandlung entlassen. Patientinnen und Patienten mit einer obstruktiven KHK wurden gemäß den europäischen Leitlinien während der Studie behandelt.

Professor Dewey, könnten Sie uns die drei wichtigsten Ergebnisse Ihrer Forschungsarbeit nennen?
Ja, gern. Wichtig sind aus meiner Sicht die folgenden Punkte:
1.) Die klinische Hauptfragestellung waren klinische Langzeitergebnisse nach 3,5 Jahren. Diese waren in der CT-Gruppe vergleichbar zur Herzkatheter-Gruppe: schwere kardiovaskuläre Ereignisse (definiert als Herzinfarkte, Schlaganfälle oder Todesfälle durch Herzkreislauferkrankungen) traten bei 2,1 Prozent in der CT-Gruppe und 3,0 Prozent der Herzkatheter-Gruppe auf.
2.) Die Häufigkeit schwerer verfahrensbezogener Komplikationen war in der initialen Behandlung nach der CT geringer (0,5 Prozent) als bei Patientinnen und Patienten, die direkt den Herzkatheter erhielten (1,9 Prozent).
3.) Es gab keine Hinweise auf Unterschiede bezüglich der Linderung der Brustschmerzen und der Verbesserung der Lebensqualität zwischen der CT-Gruppe und der Herzkatheter-Gruppe in den Verlaufskontrollen.

Könnten Sie uns beschreiben, in welchem Zusammenhang die DISCHARGE-Studie mit bereits veröffentlichten Studien steht?
Für die DISCHARGE Studie wurde im COME-CCT-Konsortium (Haase et al. BMJ 2019) eine Einschätzung der klinischen Wahrscheinlichkeit einer KHK entwickelt, die für den Einschluss der Patientinnen und Patienten genutzt wurde. DISCHARGE basiert auch auf der CAD-Man Studie, in der an der Charité Patient*innen zur CT oder Herzkatheter randomisiert wurden und die gezeigt hat, dass die CT ein zuverlässiger Test vor dem Herzkatheter sein könnte (BMJ 2016).

Was ist die Bedeutung Ihrer Ergebnisse für Patientinnen und Patienten?
An dieser Stelle möchte ich den Vorsitzenden des externen Beirats der DISCHARGE-Studie zitieren, Professor Harold C. Sox, Emeritus Professor of Medicine at Dartmouth: "Es war ein großes Privileg, um eine Basketball-Analogie zu verwenden, auf der Bank zu sitzen und das bemerkenswerte Team anzufeuern, das die harte Arbeit geleistet hat, die zu einer sehr hohen Komplettierungsrate von 98,9 Prozent für die klinische Hauptfragestellung geführt hat. Das Ergebnis ist eine überzeugende Studie, deren Erkenntnisse die medizinische Praxis beeinflussen werden." Aus meiner Sicht liegt die Bedeutung der Studienergebnisse darin, dass die CT für Patientinnen und Patienten mit dem Verdacht auf eine KHK eine sichere Alternative zum Herzkatheter darstellt.

Was hat Sie bei der Arbeit an der Studie überrascht?
Wir waren weniger überrascht als begeistert darüber, dass über 56 Prozent der Teilnehmenden Frauen waren. Dies ist ein besonders wichtiger Erfolg, da Frauen bisher in derartigen Studien häufig unterrepräsentiert waren und die Ergebnisse der Studie somit sowohl für Frauen als auch Männer gelten.

Mit welchen Kooperationspartnerinnen und -partnern haben Sie zusammengearbeitet?
Wir haben mit insgesamt 31 Partnereinrichtungen in 18 Ländern zusammengearbeitet, davon 26 klinische Zentren in 16 Ländern. Alle Einrichtungen sind auf dieser Website gelistet. Gern möchte ich an dieser Stelle dem Koordinationsteam des DISCHARGE-Projekts an der Klinik für Radiologie an der Charité, meinem Team, sehr herzlich danken. Wir führen die Arbeit an der Charité mit unseren Kooperationspartnern aus der Klinik mit Schwerpunkt Kardiologie und Angiologie durch. Auch ihnen gebührt großer Dank. In Deutschland haben neben unserem Team an der Charité das Herzzentrum Leipzig (Abteilung für Radiologie, Matthias Gutberlet) und die Klinik am Eichert/Göppingen (Klinik für Kardiologie, Stephen Schröder) als die beiden weiteren deutschen klinischen Zentren und das Universitätsklinikum Tübingen als statistisches Analysezentrum teilgenommen (Institut für Klinische Epidemiologie und angewandte Biometrie). Vielen Dank auch an sie.

Wie wurde die Studie gefördert?
Gefördert wurde die Studie von der europäischen Kommission im Förderprogramm zur vergleichenden Nutzenbewertung.

Was sind die nächsten Schritte in Ihrer Forschungsarbeit?
Wir haben für die Studie eine Methode entwickelt, mit der die klinische Wahrscheinlichkeit für eine KHK gut eingeschätzt werden kann. Diese sollte man nun daraufhin prüfen, ob damit Überweisung und Indikationsstellung für die CT in der Routineversorgung verbessert werden kann. Die in der Studie erhobenen Bilddaten werden wir im Schwerpunktprogramm Radiomics der Deutschen Forschungsgemeinschaft weiter analysieren. Gesundheitsökonomische Analysen sind eine wichtige Komponente bei der Entscheidungsfindung über eine Erstattung im Gesundheitssystem. Wie erwähnt, sind noch weitere methodisch sehr stringente Datenanalysen zur Kosteneffizienz von CT und Herzkatheter nötig.

Vielen Dank für das Gespräch, Professor Dewey.

veröffentlicht am Dienstag, 22. März 2022