Interview

„Radiomics hat das Potential, eines der wichtigsten Werkzeuge in der Medizin zu werden“

Der Begriff Radiomics – ein Kunstwort aus "Radiology" und "Genomics" – skizziert die Grundzüge dieses sehr jungen Forschungsgebiets: Es geht um die Entwicklung eines komplexen Analyse-Tools, das mit Hilfe verschiedener Algorithmen außergewöhnlich tiefgreifende Informationen aus radiologischen Bildern ziehen kann – und diese im Kontext mit Daten aus anderen Quellen wie Klinik und Labor verarbeitet und analysiert. Auf diese Weise wird man – so die Vision – einen ganz neuen Einblick in zahlreiche Krankheiten erlangen und entsprechend spezifisch wirkende Therapien entwickeln können. Prof. Dr. Ron Kikinis, Institutsleiter des Fraunhofer MEVIS-Forschungszentrums in Bremen und Leiter der Arbeitsgruppe Medical Image Computing an der Uni Bremen, erforscht – meist in Zusammenarbeit mit internationalen, interdisziplinären Arbeitsgruppen – bereits seit Jahrzenten die Möglichkeiten der computergestützten Medizin. Der Radiologe, er lehrt unter anderem auch an der Harvard Medical School in den USA, sagt: „Radiomics hat das Potential, die Medizin effizienter zu machen und somit Vorteile für den Patienten zu bewirken."

Prof. Ron KikinisProf. Ron Kikinis© Fraunhofer MEVISSie nennen Radiomics den "neuen Durchbruch in der Radiologie" - ist es einer?

Ich glaube schon. Vor allem im Hinblick auf das, was gerade in der Medizin geschieht – Stichwort „personalisierte Medizin“. Dort geht es darum, die richtigen Informationen zur richtigen Zeit zur Verfügung zu stellen. Und Radiomics ist diesbezüglich eines der vielversprechenden neuen Werkzeuge am Horizont.

Sie sprechen von einer Medizin, mit der man jeden einzelnen Patienten individuell behandeln kann.

Genau, manchmal wird auch der Begriff Präzisionsmedizin verwendet. Wir leben am Beginn einer Revolution in der Medizin. Das sind große Worte, aber ich bin fest davon überzeugt. Was wir in den letzten zehn Jahren gesehen haben, insbesondere in der Onkologie, ist ein riesiger Fortschritt im Verständnis einiger Aspekte von Krebs. Wir haben realisiert, dass viele bösartige Erkrankungen, obwohl sie gleich aussehen, eben nicht eine Krebsart sind, sondern verschiedene Untersorten haben können. Und jede dieser genetisch unterschiedlichen Variationen muss anders behandelt werden. Das wussten wir vor zehn Jahren noch nicht. Darüber hinaus gibt es die immunologische Komponente. Wir haben inzwischen erkannt, dass einige bösartige Erkrankungen das Immunsystem quasi abschalten. Dieses Wissen hat zu einer Therapie geführt, die genau diesen krankheitsbedingten Ausschaltmechanismus blockiert – man nennt die Behandlung Checkpoint-Treatment. Ganz einfach erklärt: Spezielle Medikamente helfen dem Immunsystem wieder aktiv zu werden und die bösartigen Tumore zu „erkennen“. Auf Basis all dieser neuen Erkenntnisse werden bereits innovative Medikamente eingesetzt, die früher nicht zur Verfügung standen.


Und welche Rolle spielt Radiomics dabei?

Mit Radiomics lassen sich die notwendigen, sehr tiefgehenden Analysen einer Erkrankung gewinnen, auf deren Grundlagen wir dann wissen, welche Patienten eher auf die eine oder andere Therapiemethodik ansprechen. Ebenso lässt sich beispielsweise vorhersagen, ob die Prognose für ihre Erkrankung gut oder nicht so gut ist. Aber diese Möglichkeiten werden im klinischen Alltag nicht nur im onkologischen Bereich hilfreich sein. Dank Radiomics wird man auch eine Vielzahl anderer Erkrankungen, die bis dahin nur als eine Erscheinungsform wahrgenommen wurden, in ihren Unterarten identifizieren und unterscheiden können – um dann eine personalisierte Behandlung anzusetzen. Im Augenblick ist Radiomics aber noch ein Forschungsthema, das nur mit Hilfe der Radiologen bewältigt werden kann, für das es aber viele weitere kooperative Partner in der Klinik sowie beispielsweise im Hard- und Softwarebereich braucht. Sicher ist: die bisherigen Ergebnisse, die mit Radiomics im letzten Jahrzehnt in relativ kleinen Studien produziert wurden, sind extrem vielversprechend – sie müssen jetzt in größeren Untersuchungen bestätigt werden.


Für die Krebsdiagnostik werden bisher Biopsien – Gewebeproben – verwendet. Ist das nicht ausreichend?

Ja, eine Biopsie bringt viele Informationen – hat aber verschiedene Nachteile. Sie ist nur eine ganz kleine Probe aus einem Teil des Tumors – man bekommt möglicherweise nicht die gesamte Information des ganzen Tumors. Zudem ist die Entnahme einer Gewebeprobe auch immer ein Eingriff in den Körper, der Risiken haben kann. Zudem gibt es Konstellationen, wo eine Biopsie nicht möglich ist. Mittels Bildgewinnung und Analyse durch Radiomics kann der gesamte Tumor erfasst und untersucht werden – nicht belastend für den Patienten und jederzeit einfach wiederholbar. Damit Radiomics das irgendwann kann, lernen wir gerade von der Korrelation zwischen Biopsie und Bildern.


Wo steht Deutschland in der Radiomics-Entwicklung im weltweiten Vergleich?

In Deutschland sind wir etwa seit zwei Jahren dabei – und rennen den US-amerikanischen Forschergruppen hinterher, die schon seit fünf Jahren an Radiomics arbeiten. Aber auch hierzulande besteht ein großes Interesse an der Technologie. Gemeinsam mit Professor Stefan Schönberg und Professor Gabriele Krombach habe ich im Juni 2016 in Bremen einen Workshop organisiert, bei dem Radiomics-Forscher aus verschiedenen radiologischen Bereichen zusammengekommen sind und die jetzt konkret bestimmte Fragestellungen im Bereich von Radiomics angehen wollen. Was wir jetzt brauchen, ist die finanzielle Förderung der Forschungsprojekte. Verschiedene Anträge haben wir bereits gestellt – unter anderem bei der Deutschen Forschungs-gemeinschaft und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung.


Welche Hürden sind bei der Entwicklung von Radiomics am höchsten?

Da sind vor allem drei zu nennen. Eine ist, dass die aus verschiedenen Quellen gesammelten Daten in eine gemeinsame Form gebracht werden müssen, also standardisiert, um sie für die Auswertung nutzen zu können. Diesbezüglich sind die Radiologen bereits gut gerüstet: mit „DICOM “ haben sie einen Standard für das Lesen und Speichern von radiologischen Bilddaten. Aber für alle anderen Daten aus Labor und Klinik gibt es noch kein einheitliches System, das alle Krankenhäuser und Arztpraxen verwenden – das muss noch entwickelt und installiert werden. Eine andere Frage ist: Wo werden die Daten untergebracht? Bleiben sie in der Klinik – oder beim Patienten? Oder haben wir ein zentrales Archiv, das alles speichert? Diese drei Modelle müssen nicht ausschließlich stattfinden, es sind auch Kombinationen möglich. Aber wenn wir ein zentrales Archiv haben und gleichzeitig Archive in den verschiedenen Krankenhäusern, wie stellen wir sicher, dass alles synchronisiert bleibt? Diesbezüglich sind noch viele Fragen offen, auch was die Zugriffsberechtigungen angeht.


Apropos Zugriffsberechtigung – damit sind wir beim Datenschutz, der dritten Hürde?

Genau. Natürlich ist Datenschutz wichtig – vor allem für die persönlichen Daten von Patienten. Das ist richtig so, aber für die Forschung im besten Fall unbequem, und im schlimmsten Fall macht es sie unmöglich. Nicht nur für Radiomics, sondern für die gesamte Medizin braucht man Zugang zu großen Mengen von Patientendaten. Und noch ist nicht geklärt, wie die im gewissen Sinn widersprüchlichen Anforderungen – Verwendung von Daten und gleichzeitiger Schutz – geregelt werden. Zurzeit ist der Zugang zu Daten in Deutschland besonders schwer. Das ist in den USA einfacher. Dort gibt es auch Patientenschutzgesetze, aber die werden anders gehandhabt.


Welche Rolle spielt maschinenbasiertes Lernen bei Radiomics?

Diese Technologie, die im Prinzip schon lange existiert, hat in den letzten zehn Jahren einen Quantensprung gemacht. Neue Hardware- und Software-Fähigkeiten haben viel komplexere Ansätze für maschinenbasiertes Lernen ermöglicht. Ein praktisches Beispiel dafür ist das Apple-Spracherkennungssystem Siri, das ebenfalls machine-learning-Technologien verwendet. Vor fünf Jahren war Siri noch „dumm“ – jetzt sind die Resultate langsam brauchbar. Und es hat sich gezeigt, dass dieselben technologischen Ansätze mit gewissen Modifikationen auch in der Radiologie genutzt werden können. Unter anderem als Analysetool für Radiomics, um also aus Bilddaten noch effizienter quantitative Informationen wie den Durchmesser eines Tumors, sein Volumen, seine Oberflächenbeschaffenheit zu extrahieren. Diese neuen Technologien sind bei Radiomics ein heißes Forschungsthema.


Wie wird Radiomics die Arbeit der Radiologen verändern? Manche sagen, sie hätten dann nichts mehr zu tun.

Ja, das sind die Existenzängste, die mit Wandel einhergehen. Früher hatten die Radiologen Angst vor der Computertomografie, der CT. Wir meinten, man bräuchte uns dann nicht mehr, weil es so leicht aussah, CT-Bilder zu verstehen, wenn man sie mit herkömmlichen Röntgenbildern vergleicht. Und es ist natürlich ganz anders gekommen. Neue Werkzeuge können vielleicht bisherige Tätigkeiten leichter machen – aber sie eröffnen auch wieder ganz neue Dimensionen, die vorher nicht zugänglich waren. Was ist ein Radiologe? Er ist ein Mediziner mit Spezialwissen über Bilder. Die Bilder – und ihre Interpretation – werden immer komplexer. Und Radiomics ist ein sehr komplexes System, das Spezialwissen erfordert. Ja, die Arbeitsweise der Radiologen wird sich auf jeden Fall wandeln. Aber das ist nichts Neues. Unser Fachgebiet ist im ständigen Umbruch.