Radiologie im Nationalsozialismus

Der Glanz der Technik und der Schatten der Erinnerung


Tübingen, Berlin im Juli 2016. „Mediziner waren prozentual stärker in der NSDAP vertreten als viele andere Berufsgruppen dies waren. Hieraus leitet sich für uns Nachgeborene eine besondere Verpflichtung und Vorsicht ab“, betonte Professor Daniel Zips  in seinem Grußwort zur Eröffnung des Symposiums Radiologie im Nationalsozialismus, das am 29. und 30. Juli 2016 im Hörsaal der alten HNO-Klinik in Tübingen stattfand. Prof. Zips, Lehrstuhl für Radioonkologie und Strahlentherapie, war gemeinsam mit seinem radiologischen Kollegen Prof. Konstantin Nikolaou Ausrichter dieser medizinhistorischen Veranstaltung, die sich den zahlreichen Aspekten radiologischer Verstrickung im NS-Regime widmete. Die wissenschaftliche Leitung hatte die Tübinger Strahlentherapeutin Dr. Franziska Eckert, die sich auf vielfältige Weise für die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit der Medizin engagiert und auch den Anstoß für die Aufarbeitung ihres Fachs innerhalb ihrer Fachgesellschaft, der DEGRO, gegeben hat.

Noch bis zum 13.09.2016 in Tübingen zu sehen: Die Ausstellung Radiologie im NationalsozialismusNoch bis zum 13.09.2016 in Tübingen zu sehen: Die Ausstellung Radiologie im NationalsozialismusbpkDen Auftakt des Symposiums machte allerdings kein radiologisches Thema, sondern eines, das aus lokalen Gründen auf der Agenda stand: Christian Bornefeld, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Universitätsmuseum Tübingen, referierte über das Gräberfeld X, auf dem während des Krieges zahlreiche Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene, Insassen von Gestapo-Gefängnissen und andere Verfolgte des NS-Regimes verscharrt wurden. Wie so oft in den kommenden zwei Tagen ging es auch in diesem Vortrag nicht nur um die Geschichte selbst, sondern auch um die Geschichte der Aufarbeitung: Im Falle dieses Gräberfeldes, das nahe der Anatomie der Tübingern Uniklinik gelegen ist, habe es in den ersten Jahren nach dem Krieg noch eine starke Erinnerungskultur gegeben, so Bornefeld. Diese sei in den folgenden Jahrzehnten stark abgeebbt, bis im Jahr 1989 eine Historikerin und ein Medizinstudierender die Behauptung aufstellten, dass die Präparate-Sammlung der Uniklinik Tübingen Leichenteile von NS-Verfolgten enthielte. Der Vorwurf, der sich bald bestätigte, wurde zu einem internationalen Skandal, den auch das Times Magazin seinerzeit aufgriff. Der Skandal habe zu einer starken Sensibilisierung und zu einer neuen Erinnerungskultur geführt, so Bornefeld, zu der allerdings auch die Schändung der damals gerade erst errichteten Gedenkstätte Gräberfeld X im Juli 1990 gehörte.

An dieses Thema konnte Paul Weindling, Prof. für Medizingeschichte an der Oxford Brookes University, Oxford (GB), in seinem Vortrag „Bedeutung der Aufarbeitung anatomischer und neuroanatomischer Sammlungen für Historiker“ nahtlos anknüpfen: Der Tübinger Präparate-Skandal habe für das Thema sensibilisiert, so der Inhaber des Anneliese Maier Forschungspreises der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, und dazu geführt, dass in vielen anatomischen Instituten die Provenienz der Präparate untersucht wurde.

Im letzten Vortrag dieses Tages gab Frau Dr. Gabriele Moser, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Universität Heidelberg, die in den Jahren 2010 bis 2014 die nationalsozialistische Vergangenheit der Fachgesellschaft aufgearbeitet hat, einen Überblick über ihre Forschungsergebnisse. Dabei sah sie es als eine wichtige Aufgabe an , die Namen der 165 Radiologinnen und Radiologen zu recherchieren, die im Zuge nationalsozialistischer Repressalien aufgrund ihrer jüdischen Abkunft aus den Mitgliederlisten der Fachgesellschaft gestrichen wurden. Mit einem Wort des Greifswalder Historikers Prof. Thomas Stamm-Kuhlmann charakterisierte Moser das Dilemma zwischen fortschrittlicher technischer Entwicklung der Radiologie und unethischer, ja verbrecherischer Anwendung der Strahlenmedizin im 3. Reich als „Der Glanz der Technik und der Schatten der Erinnerung“ – Stamm-Kuhlmann bezog sich auf die deutsche Raketenforschung in Peenemünde und die Erinnerung an ihre Ermöglichung durch die unmenschlichen Formen der Zwangsarbeit.

Der erste Vortrag am Samstag wurde vom Bielefelder Historiker Sascha Lang, M.A., gehalten. Lang stellte Erkenntnisse seines Promotionsprojektes RöntGenozid vor, das sich vorrangig mit der technischen Seite der Röntgenkastration befasst. Besonderes Augenmerk in seinem Vortrag richtete Lang auf den SS-Offizier Viktor Brack und das von ihm entwickelte Schalterverfahren, das eine vom Opfer unbemerkte Kastrationbestrahlung an einem Schaltertresen vorsah. Auf Viktor Brack, so Lang, gehe auch die Aussage zurück, wonach die Röntgenstrahlung neben der Gewehrkugel und dem Giftgas die dritte Waffe bei der Vernichtung sogenannten lebensunwerten Lebens sei. Folgerichtig, so der Bielefelder Historiker, müsse man auch die radiologische Forschung und ihre Zusammenarbeit mit der Industrie in der technischen Entwicklung, besonders mit der Firma Siemens, unter dem Aspekt des Genozids betrachten.

Hans-Joachim Lang, Redakteur des Schwäbischen Tagblatts und Autor des Buches Die Frauen von Block 10, widmete sich in seinem Referat der Opferperspektive. Als Beispiel nahm er das Schicksal der griechischen Jüdin Aliza Safarti, eine von 46.000 Jüdinnen und Juden, die nach der Besetzung Griechenlands durch die Wehrmacht aus Saloniki nach Auschwitz deportiert wurde. Aliza Safarti war den furchtbaren Sterilisations- und Kastrationsexperimenten der Lagerärzte Clauberg und Schumann ausgesetzt. Bei diesen an vielen hundert Frauen in Block 10 von Auschwitz vorgenommenen Eingriffen wurden zunächst die Eierstöcke einer massiven Röntgenbestrahlung unterzogen. Einige Wochen später wurden denselben Frauen unter unvorstellbaren chirurgischen und anästhetischen Bedingungen einer oder beide Ovarien zu Kontrollzwecken entnommen. Nur durch ein Wunder überlebte Aliza Safarti diese Tortur. Der Referent Hans-Joachim Lang konnte sie Jahrzehnte später in Auschwitz treffen .

Dr. Astrid Ley, Leiterin des Archivs der Gedenkstätte Sachsenhausen, fokussierte auf die juristische Seite der Eugenik des 3. Reichs. So wurde bereits im Sommer 1933 das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses erlassen, das die Sterilisation psychisch kranker Menschen, „Schwachsinniger“, Alkoholkranker und anderer Patientengruppen zum „Wohle des Volkskörpers“ vorgesehen habe. In diesen Gesetzen – in einer Novelle aus dem Jahre 1936 trat die Sterilisation mittels Röntgen- oder Radiumstrahlung als weiteres Verfahren neben die chirurgische Methode – habe sich eine Rechtsförmigkeit des Verfahrens erhalten, da die Einwilligung der zu sterilisierenden Person einzuholen war (bei der Bestrahlung) und eine Art Gerichtsverfahren zur Anwendung kam. Diese Spur von Rechtsstaatlichkeit hatte, im Verein mit dem Weiterleben der damaligen Stigmatisierungen, zur Folge, dass erst in den 2000er-Jahren die Sterilisationen der NS-Zeit als Unrecht anerkannt wurden und erst dann die Betroffenen entschädigt wurden.
Dr. Gabriele Moser stellt in ihrem folgenden Vortrag die Liste der Ehrenmitglieder der Deutschen Röntgengesellschaft vor, die zum Eingriff gemäß dem genannten Gesetz ermächtigt waren, hierunter bekannte Namen wie Prof. Dr. Karl Frik und Prof. Dr. Rudolf Grashey. Die Ermächtigung zur Röntgensterilisation sei keineswegs an nachrangige Ärzte oder Häuser vergeben worden, sondern an die führenden Kapazitäten und oft an Universitätsinstitute. Ob die genannten Radiologen diese Eingriffe auch tatsächlich durchgeführt hätten, und wie dieses Handeln unter ethischen und erinnerungspolitischen Gesichtspunkten zu bewerten sei, müssten weitere historische Forschungen klären.

Mit einem Vortrag von Prof. Paul Weindling zum Thema Biografien von verfolgten radiologisch und strahlentherapeutisch tätigen Ärzten am Beispiel emigrierter Personen endete das Symposium. Insgesamt zählte Weindling zwischen 1933 und 1948 5.907 so genannter Medical Refugees. Weindling konzentrierte sich in seinen Ausführungen auf die Emigrationen nach England, wohin 1.452 Angehörige medizinischer Berufe geflohen seien, hiervon 87 Radiologinnen und Radiologen. Besonders erwähnte er den zum Exilierten-Kreis um Sigmund Freuds gehörenden jüdischen Radiologen Ignaz Zollschan, Verfasser des Buches Das Rassenproblem, das sich mit der antisemitischen Behauptung der Existenz einer jüdischen Rasse auseinandersetzt und diese widerlegt. Das Buch stammte aus dem Jahr 1910.
Noch bis zum 13.09. 2016 wird in Tübingen im Foyer der Neuen Aula die Ausstellung Radiologie im Nationalsozialismus zu sehen sein.